Jesus in der Wüste
Versuchung Jesu in der Wüste, Basilika San Marco in Venedig, Italien,
12. Jahrhundert
Wir haben vor uns ein Mosaik aus der Basilika San Marco in Venedig in Italien. Auf diesem Mosaik ist die Perikope der Versuchung Jesu in der Wüste dargestellt.
Wüste ist ein Ort der Einsamkeit. Die Grundfarbe des Mosaiks ist die Sandfarbe, die Farbe der Wüste. Interessanterweise ist sie unten hell, nach oben hin wird sie dunkel. Außer den drei Szenen der Versuchung und der vierten mit den Engeln ist hier nichts zu sehen. Niemand und nichts ist da, was Jesu helfen könnte, die Kämpfe zu meistern. Die eigentliche und einzige Quelle der Kraft und der Weisheit liegt in ihm selbst.
Die einzelnen Szenen haben viel gemeinsam: die konfrontierende Stellung Jesus und des Teufels: Der Teufel kommt immer von rechts, von der „Weltseite“, von der Seite der Aktivität. Jesus kommt von der linken Seite, von der Seite, die eher dem Immateriellen, dem Geistigen zugeschrieben ist. Seine Aussagekraft liegt schon in der Größe der Gestalten: Jesus nimmt mit seiner Höhe zwei Drittel der Bildhöhe an. Der Teufel reicht Jesu nur bis zur Hüften. Auch der sitzende Jesus behält die Größe des stehenden. In seiner linken Hand hält er immer die Schriftrolle, ein Hinweis an seine Verbundenheit mit seinem Vater. Seine Rechte macht eine energische Gebärde, die sein Wort unterstreicht.
Schauen wir uns jetzt die einzelnen Szenen an. An den ersten Szene rechts sehen wir Jesus, der auf einem Felsen sitzt. Die Umrisslinien seiner Gestalt bestehen aus Senkrechten und Diagonalen. Die Senkrechten zeichnen den Oberkörper und das linke Bein ab, die Diagonalen das rechte Bein. Diese Kombination der Linien hat eine besondere Aussagekraft: die Senkrechten verleihen der Gestalt eine in sich ruhende Festigkeit, Sicherheit, Souveränität, Majestät; die Diagonalen Dynamik. Denselben Charakter hat dann auch das von Jesus gesprochenes Wort: fest, voll Kraft und energisch. Ihm gegenüber steht die dunkle Gestalt. In ihren Händen hält sie ein Korb mit Broten.
Die Darstellung der zweiten und dritten Szene ist fast gleich. Der Unterschied liegt im Gegenstand der Versuchung. In seiner ganzen Größe steht Jesus majestätisch da. Die senkrechten Linien, mit denen seine Gestalt gezeichnet ist, unterstreichen seine energische Entschiedenheit, Aufrichtigkeit, Festigkeit, Stärke, in sich ruhende Sicherheit. Ihm gegenüber steht der Teufel. Der Teufel schaut zu Jesus hin, seine rechte Hand streckt er zu Jesus in anbietenden und verführerischer Geste hin, mit seiner Linken zeigt er verführerisch auf den Gegenstand der Versuchung: auf Ruhm, Anerkennung und Reichtum. Jesus berührt mit seinen Füssen diese Verlockungen. Die Diagonale seiner Rechten verrät die Dynamik und Energie, mit welcher er den Teufel mit seinen Verführungen zurückweist. Diese Diagonale kreuzt sich auch mit der Diagonale der linken Hand der dunklen Gestalt, die auf die Verlockungen zeigt. Somit ist auch der Kampf zwischen den Beiden dargestellt. In seiner linken Hand hält Jesus die Schriftrolle und drückt diese fest und sanft auf sein Herz. Ein Hinweis auf seine Verbundenheit mit seinem Vater. Diese Verbundenheit ist auch für ihn die Quelle in der Einsamkeit der Wüste, Quelle der Kraft in den Kämpfen. Der Teufel flieht von ihm weg, wie wir das rechts unten sehen. Und „da kamen Engel und dienten ihm“. Drei Engel sind zu sehen. Sie sind in ein helles, strahlendes Gewand gekleidet und ihre Gestalten sind fast so groß, wie die Gestalt Jesu.
Die Farbkomposition des Bildes: Ockergelb der Wüste bildet den Hintergrund des Bildes. Auch Jesu Untergewand hat diese Farbe, seine Falten sind mit Rot gezeichnet, was mit der Lebendigkeit und Energie der Diagonalen korrespondiert und sich gegenseitig ergänzt. Das Obergewand Jesu ist dunkelblau, ein Hinweis auf Geistigkeit. Die dunkle Gestalt ist ein Symbol für das Dämonische, für die dunklen Kräfte. Während der Versuchung hat sie ein grünes Gewand an, vielleicht um den Anschein von Lebendigkeit zu vermitteln. Doch die in der rechten Bildecke liegende, abgewiesene dunkle Gestalt hat kein Gewand mehr an. Sie liegt in ihrer Nacktheit da. Das strahlende Weiß der Engel deutet auf die Freude des Sieges und die Herrlichkeit Gottes hin.
Wüste als Ort der Einsamkeit. Ein Ort der Angewiesenheit auf sich selbst, ein Ort der Selbst- und Gotteserfahrung. Die Darstellung dieses Mosaiks zeigt, mit welcher Festigkeit Jesus die dunkle Gestalt abweist. Nach der Zeit des Ringens und des Kampfes kommen Engel, eine erquickende, alles übersteigende Begegnung mit Gott, die durch seine Boten vermittelt wird.
Schw. Judit Marie Vrbská OSC